16. October 2014 Jens Matthis

Unrechts ist nicht Links - warum die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ aus linker Sicht nicht nur ein Lapsus, sondern ein schwerer Fehler ist.

Vorab: Ich bin kein Gegner einer rot-rot-grünen Regierung In Thüringen. Und wie viele andere Genossinnen und Genossen auch, halte ich die ganze Diskussion für eine falsche Diskussion zur falschen Zeit.

Anders als manche/r in der Parteiführung bin ich nun allerdings der Meinung, dass für die lästige Diskussion nicht die Kritiker des Begriffes die Verantwortung tragen, sondern diejenigen im Verhandlungsteam, die absichtsvoll oder fahrlässig der Formulierung vom „Unrechtsstaat DDR“ zustimmten.

 

Um ein Junktim zwischen einem politischen Vertrag für die Zukunft, in diesem Fall einen Koalitionsvertrag und einer bestimmten historischen Bewertung - im konkreten Fall: Die DDR sei ein „Unrechtsstaat“ gewesen - herzustellen, bedarf es einer besonderen Begründung. Entweder ist beabsichtigt, aus der Bewertung Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen. Über diese gewollten und die ungewollten Konsequenzen dieser Formulierung müsste dann intensiv nachgedacht, sie müssten benannt werden. Oder aber es handelt sich schlicht um eine politische Erpressung, die dazu da ist, die Verhandlungsposition des Gegenübers, in diesem Fall der LINKEN, zu schwächen. Letzteres sollte man sich nicht gefallen lassen.


Das Problem ist gar nicht, dass man sich durch den Begriff "Unrechtsstaat" persönlich beleidigt oder herabgesetzt fühlen müsste. Das kann man durchaus auch gelassen sehen. Insofern sind mir auch alle Erklärungen etwas suspekt, die darauf hinauslaufen, man dürfe den Begriff mit „Rücksicht auf die Lebensleistung ehemaliger DDR-Bürger“ nicht verwenden. Das ist ein so schwaches Defensivargument, dass es eher noch zur Bestätigung des Begriffes beiträgt. Es folgt dem Muster: „Opa war zwar ein krummer Hund, aber das kann man der Oma so natürlich nicht sagen“.


Das eigentliche Problem ist vielmehr, dass eine Geschichtssimplifizierung aus politischer Opportunität und vermeintlichem Pragmatismus sich an nicht vorhersehbarer Stelle bitter rächen kann.


Es ist unstrittig, die Repressionen gegen unangepasste, kritische oder oppositionelle DDR-Bürger klar als Unrecht zu bezeichnen, und zwar unabhängig davon ob sie im Einzelfall durch DDR-Recht gedeckt waren oder nicht. Der Begriff „Repression“ schließt für mich dabei alles ein, von der willkürlichen kleinen Zurücksetzung im Alltag bis zur jahrelangen Haft in Bautzen II.

 

Unstrittig ist auch, dass die DDR kein bürgerlicher Rechtsstaat mit Gewaltenteilung, unabhängiger Justiz und Rechtswegegarantie war. Sie wollte es in ihrem eigenen Selbstverständnis bis zum Herbst 1989 auch gar nicht sein. Schon der Begriff „Rechtsstaat“ wurde als Verschleierung des bürgerlichen Klassencharakters der Bundesrepublik verspottet.


Das alles kann und soll man kritisieren oder verurteilen oder sonst irgendwie „aufarbeiten“. Das ist in Ordnung und an vielen Stellen auch notwendig.


Der Begriff „Unrechtsstaat“ hat jedoch andere, weitreichendere Implikationen.

Ein Staat wird nicht allein dadurch zum Unrechtsstaat, dass es in ihm auch vom Staat geduldetes oder veranlasstes Unrecht gibt, so etwas kommt auch in vielen Rechtsstaaten vor. Zum Unrechtsstaat wird ein Staat dadurch, dass seine gesamte Rechtssetzung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung im Wesentlichen gegen übergeordnete rechtliche und moralische Normen verstößt und damit von vornherein als Unrecht betrachtet werden kann. Davon kann man z.B. mit Blick auf das „Dritte Reich“ durchaus ausgehen.


Aber bei der DDR?


1. In der DDR wurde die bürgerliche Eigentumsordnung negiert und eine andere Eigentumsordnung geschaffen. Großes Privateigentum wurde entschädigungslos enteignet, anschließend verteilt (Bodenreform) oder aber vergesellschaftet (Großindustrie, Banken usw.). Das passierte zwar in wesentlichen Teilen bereits unter Besatzungsrecht vor 1949, wurde später aber durch DDR-Recht legitimiert und fortgesetzt.

Diese Veränderungen der Eigentumsordnung wurden von denjenigen, die davon negativ betroffenen waren, also den vormaligen Eigentümern, natürlich als furchtbares Unrecht wahrgenommen. Die meisten der Enteigneten gingen daraufhin in den Westen und erhoben dort Entschädigungsansprüche. Nach 1990 versuchten sie bzw. ihre Erben mehr oder weniger erfolgreich, Eigentum zurückzuerlangen und versuchen es zum Teil immer noch.

Für einen großen Teil der bundesdeutschen Gesellschaft ist dieser Eingriff in das bürgerliche Eigentum natürlich ein Verstoß gegen eine übergeordnete Norm und damit ein Indikator für den „Unrechtsstaat DDR“


2. Noch bevor er Bundespräsident wurde, trug Joachim Gauck den „Kommunisten“ nach, dass die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und damit der Verzicht auf die deutschen Ostgebiete durch die DDR nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in großen Teilen der DDR-Bevölkerung als „Zementierung des Unrechtes der Vertreibung“ angesehen wurde. Zwar wurde dieses „Unrecht“ vierzig Jahre später durch die Bundesrepublik nachvollzogen, das hinderte aber Gauck nicht daran, es als Argument gegen den „Unrechtsstaat DDR“ zu verwenden.


3. In der DDR wurden weitreichende Pläne zur gesellschaftlichen Umgestaltung verfolgt. Dazu gehörte auch die Brechung des Bildungsprivilegs der Reichen und Besitzenden. Der Umfang, in dem Kinder aus Arbeiter- oder Bauernfamilien in der DDR Abitur machen, studieren und in die Bildungseliten aufsteigen konnten, wäre in der bundesdeutschen Gesellschaft damals unmöglich gewesen und ist es heute leider immer noch bzw. inzwischen wieder. Die Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs war aber keine harmonische Veranstaltung unter der Überschrift „Studium für alle“. Angesichts der beschränkten ökonomischen Ressourcen bedeutete zunächst jeder Studienplatz für ein Arbeiterkind auch, dass ein Kind aus einer Unternehmer-, Arzt- oder Pfarrersfamilie nicht studieren konnte, obwohl es in dessen Familientradition eigentlich selbstverständlich war. Diese wurde von den Betroffenen, menschlich gut nachvollziehbar, als großes Unrecht im „Unrechtsstaat“ empfunden.


4. Aber auch in anderen Rechtsbereichen brach das DDR-Recht radikal mit der bürgerlichen Ordnung. So etwa im Zivil- und Familienrecht . Hier vollzog die DDR weitreichende Reformen (Gleichstellung von Mann und Frau, Gleichstellung unehelicher Kinder, liberalisiertes Scheidungsrecht, Gewaltfreiheit in der Kindererziehung, Recht auf Erziehung statt elterlicher Gewalt, Legalisierung des Schwangerschaftsabbruches, Legalisierung von Homosexualität u.a.), die in der Bundesrepublik mitunter erst Jahrzehnte später, zum Teil bis heute nicht nachvollzogen wurden. Von konservativer Seite wurden diese Reformen in der Bundesrepublik natürlich auf das Schärfste bekämpft, unter anderem auch mit dem Argument, dass man nicht bereit sei, das Unrecht des „Unrechtsstaates DDR“ zu übernehmen.


5. Erwähnt sei noch das DDR-Arbeitsrecht, hergeleitet aus einem verfassungsmäßigen „Recht auf Arbeit“. Man kann es nach heutigen Maßstäben als ausgesprochen „arbeitnehmerfreundlich“ bezeichnen, auch wenn den Begriff „Arbeitnehmer“ in der DDR niemand verwendet hätte. Diese „Arbeitnehmerfreundlichkeit“ bereitete nicht nur privaten Unternehmern, sondern auch sozialistischen Leitern in VEBs und Verwaltungen mitunter erhebliche Probleme. Zugleich sicherte es Millionen Menschen eine soziale Sicherheit, die durch Umbrüche im Wirtschaftsleben nicht gefährdet wurde. Dass wirtschaftliche Risiken nicht auf Arbeitnehmer abgewälzt werden können und Arbeitsplätze nicht betriebswirtschaftlicher Rationalität geopfert werden dürfen, wäre unter heutigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zweifellos ein untragbares „Unrecht“.


Aus konservativer oder (neo-) liberaler Sicht ist es geradezu zwingend, die DDR aus den fünf vorgenannten Gründen als „Unrechtsstaat“, als Angriff auf die Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft und des bürgerlichen Rechtes zu klassifizieren. Die Einschränkung von politischen Bürgerrechten und die Repressionen gegen die Opposition spielen dabei eher eine untergeordnete Rolle, daran hätte und hat man sich bei anderen Staaten nicht weiter gestoßen.


Aber waren die (teilweise) Aufhebung bürgerlichen Eigentums, die sofortige Anerkennung der neuen Grenzen in Europa, die Brechung des Bildungsprivilegs sowie die Reformen im Zivil-, Familien- und Arbeitsrecht nach linken Maßstäben Unrecht?


Aus linker Sicht sollte man genauer differenzieren, was an diesem „Staat der kleinen Leute“ (Günter Gaus) historisch gerecht und gelungen, was legitim, aber missraten und schließlich was unentschuldbares Unrecht war.

Nicht nur um der Befindlichkeit oder eventueller juristischer Nachwirkungen willen, sondern auch wegen des eigenen programmatischen Selbstverständnisses.


Niemand in Frankreich käme wohl auf die Idee, die Erste Französische Republik, die aus der Französischen Revolution hervorging und durch den Staatsstreich Napoleons beendet wurde, wegen der Jakobinerdiktatur oder wegen des „Grande Terreur“ als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen. Sie bestand nur zwölf Jahre (1792 bis 1804) und scheiterte wohl letztlich an sich selbst. Aber sie gilt bis heute als Beginn der großen republikanischen Tradition Frankreichs, auf welche die Franzosen, die jetzt schon in der Fünften Republik leben, stolz sind.

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