05. March 2014 Andree Ehrig

Kipping & Hannemann in der Schauburg

Rund 100 Teilnehmer nahmen an der Veranstaltung zum Thema „Grundrechte kürzt man nicht!“ am 4. März in der Dresdner Schauburg teil. Zunächst schilderte Katja Kipping Ihre Erfahrungen aus der Beratung von Hartz-IV Beziehern, z.B. einer 59-jährigen Frau aus Thüringen, welche von Ihrem Jobcenter in vorzeitige Rente geschickt worden war und dadurch hohe Renten-Abzüge erleiden musste.


Ebenfalls berichtete Sie von dem deutschlandweit beachteten Fall von Thomas Kallay, der nach seiner erfolgreichen Klage gegen die verfassungswidrige Berechnung der Hartz-4 Regelsätze selbst von Sanktionen betroffen war. Es folgte eine kurze Bilanz zum 10-jährigen „Jubiläum“ der Agenda 2010 mit der Feststellung, dass keines der drei gewünschten Ziele erreicht worden war:


  1. Schnelle und passgenaue Vermittlung findet nicht statt. Arbeitslose werden in für sie sinnlosen Maßnahmen beschäftigt, ohne dass diese davon einen erkennbaren Vorteil haben. Stattdessen hat sich ein blühender Bildungsdienstleistungssektor entwickelt, der von diesen Maßnahmen profitiert. Viele Arbeitslose erhalten aus verschiedenen Gründen – meistens angeblicher Geldmangel der Jobcenter – keine sinnvollen Bildungsangebote.

  2. Die Armutsgefährdung von Hartz-4 Betroffenen hat sich drastisch erhöht. Die angestrebte „materielle Absicherung“ findet nicht statt. Stattdessen verarmen immer mehr Bezieher von Sozialleistungen. Viele Sozialleistungsberechtigte nehmen Ihre Rechte aus Angst vor Schikanen, Stigmatisierung und Gängelei durch die Behörden nicht wahr.

  3. Eine Verringerung von Sozialleistungskosten ist nicht erkennbar. Es gibt keine Kommune, die nachweisbare Einsparungen durch die Einführung der „Agenda 2010“ hatte.

Nach diesem vernichtenden Urteil über die aktuelle Sozialgesetzgebung, kritisierte die Dresdner Bundestagsabgeordnete die Arbeit der sogenannten „Bund-Länder-Arbeitsgruppe“, welche Rechtsvereinfachungen im SGB II erarbeiten sollte. Diese Arbeitsgruppe hat 2013 eine „Giftliste“ mit Änderungsvorschlägen erstellt, welche unter anderem vorsieht, dass für Widersprüche gegen Jobcenter-Bescheide eine „Strafgebühr“ von 20,00 Euro berechnet werden kann. Außerdem solle die Aufstockung der Einkommen von geringverdienenden Selbständigen auf maximal 2 Jahre begrenzt werden. Der Mehrbedarf von bis zu 224,00 Euro für Alleinerziehende, solle in den meisten Fällen gestrichen werden.


Katja Kipping wies eindringlich darauf hin, dass diese Giftliste auf jeden Fall kassiert werden müsse. Die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen, würden die ohnehin schon prekäre Lage vieler Hartz-4 Betroffener noch verschlimmern. Einzige Verbesserung wäre die geplante Verlängerung der Bezugszeiträume von derzeit 6 Monaten auf 12 Monate.

 

Die Whistleblowerin

Danach stellte sich Inge Hannemann dem Publikum vor und begann mit einer kurzen Erläuterung Ihrer beruflichen Laufbahn und wie sie selbst Teil des Hartz-4-Systems wurde. Als freiberufliche Dozentin bei Bildungsträgern kam sie selbst aufgrund der kurzfristigen Verträge mit Ihren Auftraggebern und des hohen finanziellen Druckes auf die Bildungsträger in finanzielle Nöte und nahm eine Anstellung beim Jobcenter Freiburg als Arbeitsvermittlerin U25 an. Ursprünglich hatte sie Freude an ihrer kreativen und kommunikativen Arbeit mit den jungen Arbeitslosen, für die sie zuständig war, fühlte sich aber zunehmend beengt durch das SGB-Konstrukt. Die in Jobcentern vorherrschende Kontrolle und Schikane der Mitarbeiter bei Nichteinhalten verschiedener Quoten, z.B. der „Sanktionsquote“, der „Kostenquote“ und der „Integrationsquote“, führte bei Inge Hannemann zu einer inneren Abkehr von ihrem Beruf. Sie verweigerte die Sanktionierung von Arbeitslosen, hob in einigen Fällen bestehende Sanktionen auf und hatte bald darauf mit einem arbeitsrechtlichen Verfahren zu tun. Ein abschließendes Urteil im Rechtsstreit gegen das Jobcenter Hamburg-Altona ist noch nicht erfolgt. Sie ist seitdem von ihrer Tätigkeit freigestellt und engagiert sich inzwischen aktiv gegen Hartz 4.


Auf ihrem Blog „altonabloggt“ können interessierte Leser den Verlauf bis heute nachlesen. Die Reaktionen aller Ebenen der Jobcenter - von Mitarbeitern bis zur Geschäftsführung - auf Inge Hannemann’s Petition gegen Sanktionen in der Sozialgesetzgebung, sind größtenteils positiv – Kipping scherzte, Inge Hannemann wäre für die Jobcenter, was Edward Snowden für die NSA ist, da sie auf ihrem Blog auch interne Dokumente oder Bilder von Programmen der Jobcenter in der Öffentlichkeit zugänglich macht.

 

Massenpetition gegen Sanktionen

Die geschasste Fallmanagerin schilderte außerdem Gründe, weshalb Bürger die bundesweit bekannte Massenpetition gegen die Sanktionen im SGB, nicht unterzeichneten: Angst vor Schikanen durch die Jobcenter, Unwissen welche Folgen die Sanktionen bis zu 100 % haben können, bei jüngeren Menschen eine eher ablehnende Haltung gegen eine Abschaffung der Sanktionen, wohingegen bei Noch-Erwerbstätigen ab 40 eher eine Zustimmung zur Petition zu bemerken war. Die mediale Aufmerksamkeit auf die Petition gegen die Sanktionen im SGB II war verschwindend gering – die Petition gegen Markus Lanz hatte wesentlich mehr Aufmerksamkeit von Presse und TV. Mit rund 92.000 Unterzeichnern war die Petition, welche auch von Gewerkschaften, ALO-Initiativen und Kirchen unterstützt wurde, dennoch ein Erfolg. Es folgt am 17.03.2014 ab 12:00 Uhr die Anhörung beim Petitionsausschuss des Bundestages, die von Inge Hannemann, Wolfang Neskovic (Bundesrichter a.D., Ex-MdB) und Prof. Dr. Stephan Lessenich (Sozialwissenschaftler) verteidigt wird.


Im Anschluss an den Dialog zwischen Katja Kipping und Inge Hannemann, kam es zur Diskussion mit den Teilnehmern im Saal. Dabei gab es auch einige Schilderungen von Betroffenen, die selbst mit Problemen mit Jobcentern zu kämpfen haben. In den meisten Fällen liegen diese Fehler laut Inge Hannemann an der mangelnden Qualifikation der Jobcenter-Mitarbeiter aufgrund der Komplexität des SGB, der Überlastung der Mitarbeiter durch zu hohe Fallzahlen (500-700 pro Mitarbeiter) und veralteter Technik der Jobcenter.

Von Stadtrat Tilo Kießling (DIE LINKE) wurde angeregt, sich politisch über den Stadtverband der LINKEN zu vernetzen und eine „politische Kontaktbörse“ zu betreiben (kontakt[at]dielinke-dresden.de), um auch in Dresden aktiver für eine Abschaffung von Hartz-4 arbeiten zu können.


Ein Diskussionsteilnehmer warb für Sozialrechtsanwalt Mark Feilitzsch – dieser wäre beim Sozialgericht sehr erfolgreich bei Klagen gegen Sanktionen.
Als zukunftsweisendes Projekt wurde die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) angesprochen, wobei es auch Einwände gab, wie dieses realisierbar sein solle, z.B. bei FSJlern, die dann keinen Anreiz mehr dazu hätten.
Von einem Stadtratskandidaten der Piraten wurde schließlich kurz das sogenannte „Sockeleinkommen“ vorgestellt.


Einige Teilnehmer kritisierten die Einführung der „Bedarfsgemeinschaften“ bzw. „Jeder für Jeden“ mit der Agenda 2010. Dies würde zu ungerechter finanzieller Haftung von Eltern für ihre Kinder führen. Beklagt wurde ebenfalls die gesetzliche Kollision von Pflegerecht und SGB II bei pflegenden Angehörigen – die Linksfraktion im Bundestag wurde gebeten, sich dieses Themas direkt anzunehmen.

 

Zukunft Politik
Auf ihre Kandidatur als parteilose Spitzenkandidatin der LINKEN im Wahlkreis Hamburg 6 angesprochen, erklärte Inge Hannemann, dass sie langfristig für die Abschaffung von Hartz-4 kämpft und auch als parteilose Abgeordnete in der Hamburgischen Bürgerschaft der LINKEN verbunden bleibt.

Unterstützen kann man Inge Hannemann, indem man ihr Blog liest und sich in der Gesellschaft im Kampf gegen Hartz-4 und zur gegenseitigen Unterstützung vernetzt. Katja Kipping beendete den Abend mit dem Hinweis, dass sich Wehren lohnt: 37 % der Widersprüche gegen Hartz-4-Bescheide sind erfolgreich und 44 % der Klagen vor Sozialgerichten. Das langfristige Ziel bleibt jedoch die Abschaffung von Hartz-4 und die Einführung des Bedingungslosen Grundeinkommens.

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