20. December 2014 Uwe Schaarschmidt

Die Angst der Tapferen

Alles darf der Retter des Abendlandes sein - nur kein Opfer eines Systems, das ihm empfohlen wurde. Die erste PEGIDA-Demonstration ist nun schon fast vier Jahre her. Allerdings fand sie weder unter diesem Namen statt, noch war sie als Demonstration angemeldet. Vielmehr pilgerten am 13. Januar 2011 etwa 2500 Menschen zur Dresdner Messe, um Thilo Sarrazin beim Lesen seiner Messe zu lauschen. Wer damals als Gegendemonstrant vor Ort war, wird bestätigen können: Es war der gleiche Typus Bürger zu sehen, der heute allmontäglich durch die Dresdner Innenstadt spaziert. "Deutschland schafft sich ab" - so heißt Sarrazins Buch und "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" ist die - etwas pathetisch geratene - Schlussfolgerung aus der Lektüre.


Sarrazins Buch ging inzwischen über 1,5 Millionen mal über den Ladentisch. Das macht deutlich, mit welch einem Potenzial man es hier zu tun hat. Etwa 30.000 Dresdner Wähler_innen haben bei der Landtagswahl vor dreieinhalb Monaten für Parteien rechts von der CDU gestimmt - bei den Demonstrationen ist also noch deutlich Luft nach oben, was die Anzahl der Teilnehmer betrifft. Inzwischen überschlagen sich nicht mehr nur in den Medien, sondern auch in der Politik die Mutmaßungen, womit man es hier wohl zu tun hat. Relativ einig ist man sich dabei, dass es sich um Angst handelt. Über deren Herkunft jedoch ist man sich - besonders in der Politik - uneinig. Allerdings hätte man seinen Hintern darauf verwetten können, dass auch eine der unsäglichsten Worthülsenbatterien bald zu Einsatz kommt: "Wir müssen die Sorgen und Nöte dieser Menschen ernst nehmen." Das wurde inzwischen vielfach gesagt und es ist die pure Verlogenheit einer politischen Klasse, welche die Sorgen und Nöte der Menschen über Jahre hinweg selbst produziert hat - und zwar ebenso bewusst, wie sie die daraus resultierenden Ängste seit Jahren auf Sündenböcke kanalisiert hat.


Besorgte Bürger

Nein - es sind in der Mehrheit nicht die klassischen Nazi-Typen, welche die Mehrheit der PEGIDA-Demonstranten stellen. Die Mehrheit dort sind völlig verunsicherte Angehörige der unteren Mittelschicht, jener, die es schon immer gab und jenes Teils davon, den die Verschärfung der ökonomischen Wettbewerbsbedingungen durch den gesellschaftlichen Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft neu produziert hat. Wenn sich aber die Wettbewerbsbedingungen verschärfen, verschärfen sich auch automatisch die Abstiegs- und Verlustängste an den unteren Rändern der gesellschaftlichen Schichten. "Schlanke Produktion" bzw. Outsourcing waren die Zauberformeln der 90er Jahre und besonders der Osten, wo auf Grund der Deindustrialisierung Heerscharen von Industriearbeitern und Angestellten auf den Arbeitsämtern landeten, bot ein ideales Testfeld für den Aufbruch in die Dienstleistungsgesellschaft. Vielen Menschen blieb gar nichts übrig, als in den Dienstleistungssektor zu wechseln - zum Großteil als nunmehr selbstständige (Kleinst)Unternehmer. Auch die verbliebenen und neu entstehenden Unternehmen des sekundären Sektors setzten auf Outsourcing und es entstand jene untere Mittelschicht, deren wirtschaftliche Situation nicht viel weniger prekär ist, als die der völlig Abgehängten der Gesellschaft. Frühere Hausmeister, Betriebsklempner, Kraftfahrer usw. wurden zu Unternehmern, die vorrangig sich selbst oder die Familie ausbeuten. Mangelnde Kapitaldecke, Kreditbelastungen, schmale oder keine Rücklagen und vor allen Dingen ein enormer Konkurrenzdruck untereinander lasten auf den ehemaligen Kollegen - jetzt "Wettbewerbsteilnehmer". Hinzu kam die zunehmende Bedeutung der webbasierten Wirtschaft, die vor allen Dingen kleine und auch mittlere Händler zur Aufgabe zwang oder zu beträchtlichen Umsatzeinbußen führte.


Unschuldsvermutung ausgeschlossen

Entstanden ist ein misstrauisches, verbittertes, überarbeitetes und ökonomisch wie psychisch instabiles Kleinstbürgertum, seinem Selbstverständnis nach zwar Teil der "Leistungsträger" der Gesellschaft, in Wirklichkeit ein von den Bilanzen seiner Kundschaft abhängiges Milieu in (wenn überhaupt) prekärem Wohlstand. Und das sucht nach Schuldigen für seine Lage. Dass zwar jeder reich werden kann, aber eben nicht alle, hatte man ihm verschwiegen. Sarrazin, beginnend mit Hartz IV-Bashing und dem nachfolgenden, chauvinistischen Geschreibe vom drohenden kulturellen Untergang Deutschlands durch islamische Infiltration der deutschen Gesellschaft war das, was sie brauchten, gut vorbereitet durch die von der Union losgetretene politische Diskussion um die "Deutsche Leitkultur" ab dem Jahr 2000, welche ohnehin vorhandene, fremdenfeindliche Ressentiments faktisch legalisiert hatte. Der "Islamische Staat", die Berichterstattung über seine Gräueltaten und die dadurch rapide ansteigenden Flüchtlingszahlen sind dann nur noch die Katalysatoren für jenes "Phänomen" gewesen, vor dem wir heute stehen und das im Prinzip keines ist. Wettbewerb produziert immer mehr Verlierer, als Gewinner. Vereinzelung produziert Ohnmacht. Eine Gesellschaft, in der Solidarität ein Wettbewerbsnachteil ist, produziert Neid und Missgunst. Kapitalistisches Gewinnstreben, dem man nach und nach alle Fesseln abnimmt, produziert Faschismus. Menschen, denen niemand mehr die Welt erklärt, sondern die konsequent darüber belogen werden, was auf ihr vor sich geht, laufen dann eben einem vorbestraften Bratwurstverkäufer hinterher. Hauptsache er sagt ihnen, was sie gern hören wollen, Hauptsache, er präsentiert einen Schuldigen, der seine Unschuld nicht beweisen kann, weil er per Herkunft schuldig ist.


Es geht hier weder um Religion, noch um etwaigen Terrorismus. Wenn sich die etablierte Politik nun erpressen und auf eine Diskussion über Asylpolitik oder gar Islamkritik einlässt, statt die sozioökonomischen und makroökonomischen Ursachen der gegenwärtigen Geschehnisse zu diskutieren, passiert nur eines: Der Extremismus der Mitte wird gesellschaftsfähig - die Demokratie schafft sich ab.

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